Bildungsgewerkschaft warnt: Staatsregierung fällt auf „Scheinriesen“ herein – Senkung der Teilzeitquote bei Lehrkräften hat viel geringeren Effekt als vermutet

Nach Einschätzung der GEW steht für die Bayerische Staatsregierung das Ergebnis des Dialogprozesses über die „Unterrichtsversorgung in den kommenden Schuljahren“ offensichtlich bereits fest: Lehrkräfte sollen mehr arbeiten! Mit dieser Basta-Politik greift Ministerpräsident Söder erneut in das Ressort von Kultusministerin Stolz ein. Nach dem jüngsten Kabinettsbeschluss soll der von ihr ins Leben gerufene Dialogprozess „zeitnah abgeschlossen“ werden, obwohl die schulartspezifischen Gespräche, z. B. für die Grund- und Mittelschulen, teils noch nicht einmal begonnen haben. In der Pressemitteilung der Staatskanzlei gibt Söder auch gleich die Lösung vor: Es gehe für ihn ausschließlich um „Maßnahmen zur Einbringung zusätzlicher Arbeitskapazitäten des vorhandenen Personals“. Für die Bildungsgewerkschaft ist klar, was damit gemeint ist: Eine Senkung der Teilzeitquote bei Lehrkräften, um auf diese Weise mehr Unterrichtsstunden zur Verfügung zu haben.

„Der Ministerpräsident ignoriert, dass es vielfältige Maßnahmen zum Umgang mit dem Lehrkräftemangel gibt und reduziert die Debatte einseitig auf Kosten der Lehrkräfte“, kritisiert Markus Weinberger, Sprecher der Landesfachgruppe Grund- und Mittelschulen der GEW Bayern und Mitglied des Hauptpersonalrates. Er verweist auf die Ergebnisse des Bildungsforschers Mark Rackles, der in seiner Studie vom Juni 2024 zwanzig Maßnahmen gegen den Lehrkräftemangel untersucht hat und die Gefahr sieht, dass die Politik bei einer rein quantitativen Betrachtung des Maßnahmenpotenzials auf „Scheinriesen“ hereinfällt. Für Rackles sei ein solcher Scheinriese eben genau das vermeintliche Potential, das in einer Senkung der Teilzeitquote stecke. „Selbst die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) korrigierte nach differenzierter und lebensnaher Betrachtung ihre anfänglich hochfliegenden Erwartungen an diese sehr umstrittene Maßnahme“, so Weinberger.

Die GEW verweist wiederholt auf die vielen negativen Auswirkungen des letzten Maßnahmenpakets des Kultusministeriums („Piazolo-Paket“) im Jahr 2020 mit den sprunghaft angestiegenen Zahlen von Teildienstfähigkeiten und Frühpensionierungen. „Um dem Lehrkräftemangel wirklich Herr zu werden, brauchen wir einen vielfältigen Mix von angebotserhöhenden und bedarfssenkenden Maßnahmen. Das Problem einseitig auf Kosten des vorhandenen Personals lösen zu wollen, greift viel zu kurz. Viel zu groß ist die Gefahr, dass sich Lehrkräfte dann lieber ganz aus dem Dienst verabschieden, die die Teilzeit bewusst gewählt hatten, um ihre Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu erhalten“, fasst Martina Borgendale, Landesvorsitzende der GEW, die Problematik zusammen.

Zudem warnt Borgendale dringend davor, die familienbedingte Teilzeit anzufassen: „Die Betreuungssituation in Bayern ist mehr als angespannt. Es fehlen 70.000 Kita-Plätze und vielerorts ist es schwierig eine Kita zu finden, die früh genug offen hat, um in der ersten Stunde vor der Klasse zu stehen. Und auch die Umsetzung des Ganztagesanspruches für Grundschulkinder ist in Bayern von Kommune zu Kommune sehr unterschiedlich und insgesamt als lückenhaft zu bezeichnen. Lehrkräfte, die Eltern sind, nun zu einer Erhöhung ihrer Stundenzahl zu zwingen, wäre ein derber Vertrauensbruch. Zudem noch von einem Ministerpräsidenten verordnet, dessen Partei sich stets Werte wie die klassische Familie auf die Fahnen schreibt.“

Florian Kohl, stellvertretender Vorsitzender und selbst Förderschullehrer, begrüßt dafür die Stellenhebungen im Nachtragshaushalt für Gymnasien, Berufliche Schulen, Realschulen und Förderschulen. „Viel mehr als Schmerzensgeld kann das aber in der derzeitigen Situation der Förderschulen nicht sein. Aufgrund des Personalmangels wird es vielerorts schwierig, noch von hochqualifizierter sonderpädagogischer Förderung zu sprechen. Uns erreichen erschreckende Erfahrungsberichte. Es braucht dringend zusätzliche entlastende Maßnahmen für das bestehende Personal und eine Attraktivitätssteigerung für alle Beschäftigten an den sonderpädagogischen Einrichtungen“, unterstreicht Kohl.

Für ebenfalls absolut unangemessen halten Borgendale und Kohl die Diskussionen um die weiteren Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich. Martina Borgendale bezieht klar Stellung: „In der Jugendhilfe, der Demokratieerziehung, im Sozialbereich und im Ehrenamt darf nicht gekürzt werden. Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft und der Schutz unserer Demokratie erfordern Investitionen, keine Kürzungen. Die Folgen einer verfehlten Sozial- und Integrationspolitik schlagen als erstes in den Bildungseinrichtungen auf. Will man die Kolleg*innen in Kitas und Schulen entlasten, muss man vor allem tragfähige sozialpolitische Strukturen stärken.“

Studie von Mark Rackles: https://kurzlinks.de/racklesstudie


13.11.2024
GEW Bayern
www.gew-bayern.de