Folgeschäden einer Abhak-Republik 

Der Kommentar zum Zeitgeschehen

von Jürgen Scherer

Seit geraumer Zeit geht ein ungläubiges Kopfschütteln durch unsere Republik. Wie kann es sein, dass rechtspopulistische Umtriebe zunehmen und dezidiert demokratiefeindliche Kräfte in deutsche Parlamente gewählt werden?
Wie kann es sein, dass nach dem 7.Oktober 2023 so wenig sichtbare allgemeine Empathie mit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland zu registrieren war?
Wie kann es sein, dass der Antisemitismus in unserem Nachkriegsdeutschland wieder zu einer nicht hinnehmbaren Blüte kommt?
Wie kann es sein, dass ein der Vergangenheit angehörend geglaubter Hass auf d e n RUSSEN ungeahnten Aufschwung erhält und für militaristische Zielsetzungen in unserem Land herhalten muss?
Solche und ähnliche Fragen stellen sich viele nachdenklich geschichts- und demokratiebewusste BürgerInnen in unserem Land. Dazu im Folgenden  einige Überlegungen.

Das allgemeine Erstaunen hinsichtlich der angesprochenen Phänomene erklärt sich m.E. daher, dass es einen mehrheitlichen Empörungskonsens in unserer Gesellschaft dahingehend gibt, dass doch jedermann und jedefrau in unserem Lande aus dem Geschichtsunterricht eigentlich klar sein müsste, wie gefährlich für eine Demokratie antidemokratisch gesinnte Parteien sind, klar sein müsste, wohin Antisemitismus führen kann, klar sein müsste, dass Völkerhass nur Unglück bringt!

Eigentlich sollte das so sein und immerhin gilt Deutschland in der Welt als Aufarbeitungsweltmeister, was seine Vergangenheit angeht, wird oftmals dafür bewundert.

Aber genau da liegt m.E. der Hase im Pfeffer: Dass Sachverhalte in der Schule „durchgenommen“ wurden oder regelmäßig Gedenkstunden abgehalten werden, heißt noch lange nicht, dass das „Wesen“ all dieser „Maßnahmen“ auch da angekommen ist, wo es eigentlich „landen“ sollte: in den Herzen und Seelen der Menschen. So liegt auch z.B. der oft geäußerte Vorwurf „Ihr habt das doch in der Schule gelernt“ nicht selten daneben, denn „durchgenommen“ ist noch lange nicht „verinnerlicht“ und damit evtl. verhaltensmäßig umsetzbar. Aber für die jeweilige Öffentlichkeit kann konstatiert werden: Stand im Lehrplan, wurde „durchgenommen“: Abgehakt! Oder: Gedenken, pflichtgemäß erledigt: Abgehakt! Ab und zu mal wieder eine genormte Solidaritätsadresse an irgendwelche der gesellschaftlich verfolgten Gruppen auf den Weg gebracht: Abgehakt!

Genau solche Abhakmentalität charakterisiert in vielen Bereichen unser Land und schützt eben deshalb nicht vor beschämend-skandalösem Auftauchen überholt geglaubter unseliger Verhaltensweisen, wie in den einleitenden Fragen angesprochen.

Natürlich sind rationale Einsichten in geschichtlich-gesellschaftliche Problematiken und Gegebenheiten wichtig, aber nicht weniger wichtig ist eine damit einhergehende empathisch-menschenfreundliche Verhaltensweise, wenn Gegenwart und Zukunft erfolgreich demokratisch und friedlich lebenswert gestaltet werden sollen.

Genau deswegen müssen humanistische Lehren aus der Geschichte und eine  daraus folgende mündige demokratische Gestaltung unseres Gemeinwesens aktiv, engagiert, leidenschaftlich und mitfühlend vermittelt, umgesetzt und gelebt(!) werden, nicht nur formel- und floskelhaft abgehakt. 


*Jürgen Scherer ist ehemaliger Lehrer für Geschichte und Politik an einer hessischen Gesamtschule und GEW-Mitglied. Er schrieb früher für das Magazin Auswege, jetzt für das GEW-MAGAZIN.
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