Psychosoziale Betreuung ausbauen statt Abschiebedebatten führen
Ärzt*innenorganisation IPPNW zum Doppelmord in Aschaffenburg
Die Ärzt*innenorganisation IPPNW ist entsetzt über die brutale Ermordung eines zweijährigen Kindes und einer ihm zu Hilfe eilenden Person in Aschaffenburg. Unser tiefes Mitgefühl gilt den Familienangehörigen. Die IPPNW fordert die Politiker*innen aller Parteien auf, diese grausame Tat nicht für Hetze gegen Geflüchtete und Migrant*innen zu instrumentalisieren. Statt toxische Abschiebedebatten zu führen und sich immer mehr an AfD-Positionen anzunähern, muss die Politik unsere multikulturelle Migrationsgesellschaft offensiv verteidigen und sich dem Problem konstruktiv stellen, wie soziale Integration und eine angemessene Gesundheitsversorgung für alle Menschen gelingen kann.
Die IPPNW verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass es in Deutschland an einem angemessenen Zugang zu einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung für geflüchtete Menschen fehlt – was im Einzelfall fatale Folgen für andere oder die Betroffenen selbst haben kann, vor allem in einem tendenziell feindseligen gesellschaftlichen Klima.
Dazu erklärt Dr. Angelika Claußen, Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Co-Vorsitzende der IPPNW: „Ich weiß aus meiner ärztlichen Erfahrung, dass die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von geflüchteten Menschen, die oft schwer traumatisiert sind, in Deutschland völlig unzureichend ist. Zudem ist die Situation im Aufnahmeland alles andere als einfach. Das zu ändern, sollte im Fokus stehen. Außerdem: Glaubt die Politik wirklich, dass die Tat von Aschaffenburg besser in einem anderen europäischen Land oder in Afghanistan hätte stattfinden sollen? Dieses Denken ist zutiefst zynisch und unsolidarisch.“
In Deutschland wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung zum einen durch die Sonderbehandlung geflüchteter Menschen durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), zum anderen durch diskriminierende Merkmale des Gesundheitssystems stark eingeschränkt. In den ersten 36 Monaten nach ihrer Ankunft haben Geflüchtete nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen Anspruch auf eine medizinische Behandlung. Auch danach wird eine angemessene medizinische und therapeutische Versorgung häufig erschwert. Laut dem psychosozialen Versorgungsbericht der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) von 2024 konnten die Psychosozialen Zentren und ihre Kooperationspartner*innen 2022 nur 3,1 Prozent des potenziellen Versorgungsbedarfs abdecken.
Zu der Abschiebedebatte ergänzt die Co-Vorsitzende der IPPNW: „Das Wetteifern unter den führenden Politiker*innen, wie man Asylsuchende und Migrantinnen am schnellsten abschiebt, ist beschämend. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland hat eine migrantische Herkunft. Was wäre, wenn alle Migrant*innen in Deutschland einen Streik ausrufen würden? Wie viel Personal im Krankenhaus, im Einzelhandel, in der Autofertigung, in den Kindergärten, an den Hochschulen, in den Putzdiensten, in der Gastronomie und den Hotels würde fehlen?“
24.1.2025
IPPNW – Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges/ Ärzte in sozialer Verantwortung – Deutsche Sektion
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