Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 70: Statistiken bluten nicht

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 70

 

Statistiken bluten nicht

»Der Mensch wird – in dieser Gesellschaft – überflüssig, vorher schwinden seine Fähigkeiten.«
(Max Horkheimer)

Gestern fand an der Ausgrabungsstätte der Alten Synagoge eine Art Führung statt, die vom Stadtarchäologen durchgeführt wurde. Am Sonntagvormittag versammelten sich circa 100 Gießener Bürger rund um die Grube, in der die Grundmauern des 1938 niedergebrannten jüdischen Gotteshauses freigelegt worden sind. Das Wetter passte zum Ort und zum Anlass. Es war kalt, windig und regnerisch. Frierend standen die Menschen um die Grube. Gruben haben immer etwas Gruseliges und diese hier ganz besonders. Auch dann, wenn keine Gebeine zum Vorschein gekommen waren, war es doch wie auf dem Appellplatz von Buchenwald. Was freigelegt und ans Licht geholt wurde, ist ein Teil der verdrängten deutschen Geschichte. Ob wir wollen oder nicht, geht uns das etwas an, auch wenn viele glauben, dass sie sich davon losreißen können. Da der Stadtarchäologe kaum zu verstehen und das, was er zeigen wollten, von etwas weiter weg nicht zu sehen war, Wetter und Ort zum Frösteln waren, wohnte ich der Veranstaltung nicht bis zum Ende bei, sondern trollte mich nach einer Weile. Ich floh ins Warme. Jedenfalls äußerlich. … weiter 
(Hinweis: Der Link führt seit Nummer 66 auf die eigene Seite der durchhalteprosa.de )

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 64: Die Normalisierung des Grauens

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 64

 

Die Normalisierung des Grauens

„Ich sehe den breiten Streifen Grün unter der Mauer, den klaren, blauen Himmel darüber und das Sonnenlicht überall. Das Leben ist schön. Mögen es die kommenden Generationen von allem Übel, aller Unterdrückung, aller Gewalt befreien und es in vollem Maße genießen.”
(Leo Trotzki, Testament)

Die Befreiung Chersons erweist sich als Danaer-Geschenk. Die russische Armee hat sich ans gegenüberliegende Flussufer zurückgezogen und dort gewartet, bis die Bewohner in die Stadt zurückgekehrt waren, um sie nun umso heftiger mit Granaten zu beschießen und ihnen das Leben zur Hölle zu machen. Die ganze Sinnlosigkeit und Absurdität des Krieges wird hier noch einmal offenbar. Befreite Menschen, die nun zu erfrieren und zu verhungern drohen oder von Raketen und Granaten zerfetzt werden. Jan Philipp Reemtsma hat für diese Form der Gewalt, wie sie die russische Armee  praktiziert, den Begriff „autotelische Gewalt“ geprägt. Von instrumentellen Gewaltformen, die Gewalt zweckgerichtet zur Erreichung eines Ziels einsetzen, unterscheidet er die autotelische Gewalt, die den Körper schädigen oder zerstören will. Ihr begegnet die moderne, westliche Wahrnehmung mit größter Irritation. Es sind die Exzesse motivationsloser Gewalt, die die Verbindungen zu einer wie auch immer gearteten instrumentellen Vernunft gekappt zu haben scheinen und nicht mehr zum Kreis regulär zu erwartender Ereignisse zählen. Amoktaten gehören hierhin und hinterlassen uns meist ratlos. … weiter

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 61: Das Geld ist queer

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 61

 

Das Geld ist queer

Rimbauds einst skandalöse Behauptung, ‚Ich ist ein anderer‘, gehört heute zur psychischen Grundausstattung des zeitgenössischen Subjekts, diesem Chamäleon multipel ausgelebter Existenzweisen.“
(Wolfram Schütte)

Nach dem durch Polizeigewalt herbeigeführten Tod von Mahsa Amini in Teheran kommt der Iran nicht zur Ruhe. Überall im Land wird gegen die Herrschaft der Mullahs und die religiöse Bevormundung demonstriert. Getragen werden die Proteste vor allem von jüngeren Frauen, die ihre Kopftücher ablegen und öffentlich verbrennen. Sie sind nicht länger bereit, sich in die ihnen zugedachte Position einer halbfeudalen oder feudalen Abhängigkeit zurückdrängen zu lassen.

Dem Iran und ähnlich verfassten Gesellschaften steht, wenn man so will, die Aufklärung noch bevor, die der Bevormundung durch die Religion ein Ende setzt und Macht und Herrschaft hinterfragbar macht, ohne dafür gesteinigt oder inhaftiert zu werden. Es sind überfällige Modernisierungsprozesse, die in solchen noch archaisch verfassten Gesellschaften in Gang kommen und die im Fall ihres Gelingens die betreffenden Gesellschaften auf die „Höhe der Zeit“ heben. … weiter

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