Negativ ist das neue Positiv

Ein Plädoyer für die Aktion „allesdichtmachen“

 

von Brigitte Pick

Es wird uns Mitarbeitern der ›Weltbühne‹ der Vorwurf gemacht, wir sagten zu allem Nein und seien nicht positiv genug. Wir lehnten ab und kritisierten nur und beschmutzten gar das eigene deutsche Nest. Und bekämpften – und das sei das Schlimmste – Haß mit Haß, Gewalt mit Gewalt, Faust mit Faust…….. Laßt uns auch weiterhin Nein sagen, wenn es not tut! Es ist das Thema des Aischylos.1)

Es lohnt sich den Aufsatz von Tucholsky in der Weltbühne vom März 1919 zu lesen, aktuell wie vieles von ihm.

Die aufgeblasene Kritik an den 53 Schauspielern und ihren harmlosen Videos treibt mir den Blutdruck in die Höhe. Sie kritisieren durch ironisch verfremdete Rollenprosa eine staatliche Lockdown-Politik, die viele ihrer Kollegen mit einem faktischen Berufsverbot belegt.

Sie bestätigt, dass die grundlegende Einschätzung der Schauspieler zutrifft: Das freie Wort und die Freiheit der Kunst stehen in pandemischen Zeiten unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck.2)

Es ist ein bigottes Spiel, den Protagonisten, die lediglich Kritik an den widersprüchlichen und immer mehr umstrittenen Corona Maßnahmen, vortragen als zynisch zu brandmarken und ihnen gar mangelnde Empathie am Krankenhauspersonal und Opfern der Krankheit vorzuwerfen. Zum Beruf der Schauspieler gehört es, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Wer anderen Zynismus vorwirft, ist oft selbst der Zyniker. Ein anderes zweifelhaftes Totschlagargument ist, man hätte wissen müssen, dass der Beifall von der falschen Seite käme. Muss ich dann für die Todesstrafe sein, wenn sich die AFD dagegen ausspricht?

Den Gipfel schoss ein Sozialdemokrat ab. Die schärfste Ablehnung stammte von dem ehemaligen Landesvorsitzenden der niedersächsischen SPD und derzeitigen Rundfunkrat des WDR, Garrelt Duin: Die öffentlich-rechtlichen Anstalten müssten die Zusammenarbeit mit den involvierten Schauspielern «schnellstens beenden». Später zog Duin die Forderung zurück. Man denkt unwillkürlich an den überkommenen Spruch: Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten.

Zwanzig Schauspielerinnen, darunter Meret Becker, Heike Makatsch und Ulrike Folkerts haben ihre Videos gelöscht, um nicht Beifall von der falschen Seite zu bekommen. Das ist bedauerlich, denn gerade der Schauspieler kann sich seinen Applaus nicht aussuchen.

Ulrich Tukur hat der NZZ Intelligentes zu Protokoll gegeben.

Kunst kann kein Arzneimittel sein, sie muss schmerzen. Es ist seit alters her das Privileg des Gauklers, dem Herrscher einen Spiegel vorzuhalten und in seiner (überspitzten) Art auf Missstände aufmerksam zu machen. Man muss das nicht kommentieren. Meine Kollegen und ich wollten lediglich ein Fenster in diesem trägen Haus aufreissen und frische Luft hereinlassen. Und jetzt gehen sich alle gegenseitig an die Gurgel. Schade. Ich hätte mir eine offene Diskussion um diese erratische und kontraproduktive Corona-Politik gewünscht, die ohne Not so viele Existenzen ruiniert.3)

In welchem Land lebe ich?


1) https://tucholsky-gesellschaft.de/1919/03/13/kurt-tucholsky-wir-negativen/
2) https://www.nzz.ch/feuilleton/allesdichtmachen-den-deutschen-schauspielern-platzt-in-der-pandemie-die-hutschnur-ld.1613530
3) https://nzzas.nzz.ch/international/tatort-schauspieler-ulrich-tukur-zu-allesdichtmachen-jetzt-gehen-sie-sich-alle-an-die-gurgel-schade-ld.1613824?reduced=true


zur Information: Statement von „allesdichtmachen“