Die Verwirrung hat System

Der Kommentar zum Zeitgeschehen

von Jürgen Scherer

Das ganze Desaster begann mit der Einführung des Privatfernsehens. Nach dem Willen der damaligen Regierung Kohl sollte den Öffentlich-Rechtlichen mit deren eingebauter Aufmüpfigkeit gezeigt werden, wo der Bartel den Most holt. Und siehe da, der Bartel holte den Most im Morast und sorgte dafür, dass die ÖR mit der Zeit immer mehr verflachten und sich dem neuen Stream anpassten: Das Infotainment war geboren und das sollte der vermeintliche Königsweg der neuen Medienzeit werden. Plötzlich ging nahezu nichts mehr im Nachrichtenraum, das nicht mit einer „persönlichen Geschichte“ unterlegt daherkam. Und mit der Zeit entschwanden auch auf Kurznachrichten folgende Hintergrundinformationen zum besseren Verstehen der Zusammenhänge. Die Menschen sollten nicht gar zu sehr mit nachvollziehbaren Nachrichten überfordert werden. Kurz und knackig, das war neue Devise. Danach gleich wieder Unterhaltung auf allen Kanälen. Der nächste Schritt waren dann die Spartenkanäle. Wer auf Nachrichten stand, konnte ja die Infokanäle einschalten, im Radio ARD-Infosender, im Fernsehen z.B. Phoenix und für Bildung oder Künstlerisches Bayern-Alpha oder Arte. Die freie Wahl also. Aber, wer hat schon die Zeit, die wahrzunehmen?

Auf jeden Fall war so schon der erste und zweite Schritt in die Gesellschaftssplittung geschafft. Und teilen, um zu herrschen, war ja schon immer ein wichtiges Element im 1×1 der Macht.

Der Quantensprung in dieser Herrschaftstechnik wurde dann durchs WorldWideWeb erreicht. Nun konnte sich jede/r frei und ungebunden informieren und sich austauschen und sich einmischen, sozusagen das moderne „Spiel ohne Grenzen“. Alles schien möglich – Infofreiheit pur. Nur haben die Menschen die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der heißt: Erst verwirren, dann, wie gewünscht, lenken.

Konkret: Die derzeit ungeheure Vielfalt an Infos hat eine Hydra der Vielfalt geschaffen, die zwar einerseits die Erfüllung aller Wünsche und Informationen verspricht, andrerseits aber ein derart verzacktes Gebirge von Ungereimtheiten und Unübersichtlichkeiten schafft, dass die vermeintlich bestinformierten Menschen ever immer mehr zu den berühmtem drei Affen mutieren: Nichts sehen, nichts hören und nichts sagen. Zurück geht dieser Ausdruck auf ein mittelalterliches Sprichwort: »Audi, vide, tace, si tu vis vivere pace (zu deutsch: Höre, sieh und schweige, wenn du in Frieden leben willst).«

Soll mal eine/r sagen, diese Gesamtlage habe kein System …


Jürgen Scherer ist ehemaliger Lehrer für Geschichte und Politik an einer hessischen Gesamtschule und GEW-Mitglied. Er schrieb früher für das Magazin Auswege, jetzt für seinen Nachfolger – das GEW-MAGAZIN.
Bild von Gordon Johnson auf Pixabay