Zum „Tag der Menschenrechte“ am 10. Dezember 2020: 40 Jahre Radikalenerlass

Stellungnahme: Initiativgruppe „40 Jahre Radikalenerlass

Die „Initiativgruppe 40 Jahre Radikalenerlass“ nimmt den Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 2020 zum Anlass, die baden-württembergische Landesregierung erneut aufzufordern, sich endlich für das Unrecht der Berufsverbote zu entschuldigen.

Welches Ausmaß diese Politik der Berufsverbote gerade in Baden-Württemberg angenommen hatte, und wie rigoros sie mit Hilfe des „Schiess-Erlass“ praktiziert wurde, ist z. B. im Zwischenbericht eines Forschungsprojekts des Historischen Seminars der Universität Heidelberg nachzulesen. Auf Grundlage des Schiess-Erlasses „wurden zwischen 1973 und 1991 über 600.000 Überprüfungen von Beamten(bewerber*innen) unter Hinzuziehung des Landesamtes für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg durchgeführt. Die Ablehnungen und Entlassungen beziffern sich nach Stand des Forschungsprojekts 2020 auf insgesamt ca. 200 bis 300.“ (Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, ’68 und der „Radikalenerlass“ (1968-2018) Ein Forschungsbericht S.27)

Viele der Betroffenen waren jahrelang arbeitslos, mussten sich eine neue Existenz aufbauen und sind mittlerweile teilweise völlig unverschuldet von Altersarmut betroffen. Deshalb fordern wir von der Landesregierung, die Betroffenen zu rehabilitieren und zu entschädigen. Besonders empörend für uns Betroffene war und ist noch heute, dass ausgerechnet die Vertreter dieser Politik, die uns unsere demokratische Haltung absprechen wollten, CDU-Ministerpräsident Hans Filbinger und Innenminister Karl Schiess, alte Nazis waren.

Auf die Gefahr von rechts haben wir schon damals aufmerksam gemacht, auch, dass der Verfassungsschutz die Verfassung nicht schützt. Für viele ist dies erst nach dessen Verstrickungen in der Naziszene offensichtlich geworden. Mit großer Besorgnis sehen wir die Zunahme von rechten Netzwerken in Polizei und Bundeswehr, in denen Volksverhetzung betrieben und Rassismus geschürt wird.

In Kreisen von Innenministern gibt es Überlegungen, dieser Gefahr mit einem neuen Radikalenerlass zu begegnen. Dies lehnen wir aus eigener Erfahrung grundsätzlich ab. Um gegen nazistische Tendenzen vorzugehen, braucht es keinen neuen „Radikalenerlass“ oder „Extremistenbeschluss“, sondern die konsequente Umsetzung des Art. 139 GG und der §§ 86 und 130 StGB. Wir halten an unserer Auffassung fest, dass aus dem Öffentlichen Dienst entlassen werden kann und soll, wer sich schwerwiegender konkreter Vergehen gegen seine Dienstpflichten schuldig gemacht hat. Die bloße Mitgliedschaft in einer Gruppe oder Organisation oder einer nicht verbotenen Partei kann kein Berufsverbot begründen.

Die etablierten Parteien, die staatlichen Institutionen und auch die Justiz hatten und haben alle Möglichkeiten, politisch und rechtlich gegen Organisationen und Personen vorzugehen, die grundgesetzwidrig handeln. Es ist höchste Zeit, dass sie diese ihre Aufgabe endlich entschieden wahrnehmen.


4.12.2020
Klaus Lipps
Sprecher der „Initiativgruppe 40 Jahre Radikalenerlass“

 

2 Kommentare

  • Serge Gempelburg

    Lieber Klaus,
    ja, das war und ist eine Schweinerei, Lehrern, Briefträgern und anderen nach der Ausbildung den Zugang zum Broterwerb zu untersagen. Das nennt man dann wehrhafte Demokratie. Systemkritik hat eine Herrschaft eben nicht gern. Da unterscheidet sich diese Form bürgerlicher Herrschaft (der gute alte Reinhard Kühnl bleibt aktuell) nicht von anderen. Einen freien Diskurs über Systemalternativen von Menschen, die den Staat als Arbeitgeber haben, das geht gar nicht. Dass wir unser Gehalt als Almosen empfangen, kann man ja nicht sagen. Die Überlastung von Lehrer*innen, Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen im Schuldienst ist Legende. Es ist ja sogar so weit gekommen, dass Betroffene von sogar von der vom Dienstherrn eingeräumten Möglichkeit von Überlastungsanzeigen absehen, weil sie Nachteile für den Verlauf ihrer Karriere fürchten. So funktioniert das demokratische Bildungssystem.

    Auffällig bleibt allerdings, dass die Berufsverbote in der Bundesrepublik traditionell Kommunisten und Anarchisten trifft und traf. Über Berufsverbote von NPDlern hat man nicht so viel gehört. Das hat natürlich System, weil der bürgerliche Staat ziemlich genau weiß, von wem die Gefahr ausgeht und wen man eben doch nicht ganz abschreiben sollte.

    Sicher, da waren an den entscheidenden Stellen auch alte Nazis am Werke. Aber, mal ehrlich, das KPD-Verbot wurde nicht von alten Nazis durchgesetzt. Da hätte die SPD ja anders abstimmen können, wollte sie aber nicht. Und Willy Brandt, diese Lichtgestalt der Versöhnung, war ein entschiedener Antreiber der Berufsverbotepraxis. Antikommunismus hat eben nicht nur bei den offen Rechten Tradition.

    Manche von uns haben sich damals dann eben zurückgezogen und das Berufsverbot gleich selbst an sich exekutiert und nach dem Referendariat gleich eine Umschulung angehängt. Auch weil sie wussten, dass die GEW sie in der Regel nicht unterstützen würde, weil sie gar nicht eintreten durften. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegen Kommunisten und Anarchisten wurde in den Gewerkschaften nicht von Nazis durchgesetzt und mitgetragen, oder? Freunde des Klassenkampfes haben eben in einer Organisation der Sozialpartnerschaft nichts zu suchen, wie klein diese Minderheit auch immer sein mag.

    Der Gipfel der Genüsse ist, dass, wenn ich recht informiert bin, die Regelüberprüfung in Hessen von Roland Koch(!) ausgesetzt wurde. Dass Du das Gebot der Verfassungstreue aber immer noch unterstützt, entsetzt mich ehrlich gesagt einigermaßen. Oder habe ich Dich falsch interpretiert?

    Beste Grüße
    Serge

  • Serge Gempelburg

    Kommentarkorrektur/-ergänzung:

    Natürlich basiert das unsägliche KPD-Verbot nicht auf einem Parlamentsbeschluss. Das Bundesverfassungsgericht hat dies 1956 (das Jahr in dem Bertold Brecht starb) auf Antrag Adenauers & Co entschieden. Von Seiten der Sozialdemokratie gab es deshalb keinen Aufstand. Sie war schließlich eine Kritikerin los, die sie manchmal an ihre Ursprünge erinnert hatte, die sie ohne Not aber willentlich hinter sich gelassen hat. Weil sie die Seiten gewechselt hat, muss man sie tatsächlich nicht mehr damit konfrontieren. Sie steht eben für ein staatstragendes Programm.

    Auch die Nachfolgeorganisationen jenseits und neben der DKP in Form der damaligen sog. K-Gruppen (KPD, KPD/ML, KBW, KABD, KB) haben sie und die Gewerkschaften erbarmungslos verfolgt. Da sind Krokodilstränen jetzt wohlfeil zu haben.

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