Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 78: Die Furie des Verschwindens

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 78

 

Die Furie des Verschwindens

„Die Literatur: ein Kolibri in der Maschinenhalle, flüchtig, schön und ohne Zweck. Und doch entzündet sich die Sehnsucht daran, es möge mehr als nur Maschinenhallen geben.“
(Ralf Rothmann: Theorie des Regens)

Von den beiden Gesetzentwürfen zur Neuregelung der Sterbehilfe, die heute (6. Juli 2023) im Bundestag zur Abstimmung standen, fand keiner eine Mehrheit. Auch drei Jahre nach einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts bleibt der assistierte Suizid ohne gesetzliche Regelung. Sterbehilfe ist erlaubt, aber es gibt nach wie vor kein Gesetz, das dafür verbindliche Regelungen vorgibt. Ein echtes Trauerspiel, das einfach kein Ende nimmt. Man schleicht um den heißen Brei, der nicht abkühlen will. Man merkt an dem schleppenden Verfahren, dass das Thema Sterben und Tod noch immer – oder vielleicht mehr denn je? – von Tabus umgeben und überlagert ist.

„Worin besteht aber der Optimismus, den ich mit Adorno, meinem verstorbenen Freunde, teile? Darin, dass man versuchen muss, trotz alledem das zu tun und durchzusetzen, was man für das Wahre und Gute hält. Und so war unser Grundsatz: theoretischer Pessimist zu sein und praktischer Optimist!
(Max Horkheimer: Kritische Theorie gestern und heute, Vortrag aus dem Jahr 1969)         … weiter
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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 75: Die Geburt des Sozialismus aus dem Geist des Ressentiments

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 75

 

Zur Dialektik der Einsamkeit

„Twitter ist wie Menschen, nur noch mehr. Twitter nach Einbruch der Dunkelheit sind verlassene Kinder, die um Aufmerksamkeit buhlen. Twitter ist das Es, wenn es tippen könnte.“
(A. L. Kennedy)

(c)Foto: Letzte Generation – Aktion Köln, 9.3.2023

Jetzt bekommt meine Oberkieferprothese tatsächlich eine Gaumenplatte. Ohne sie würde die Konstruktion nicht halten. Sie ist durch das eingebaute Metall derart schwer, dass sie einfach der Schwerkraft folgt und runterfällt. Gestern Abend ist sie mir beim Husten rausgefallen. War eben in der Praxis, wo man Abdrücke genommen hat. Nun muss ich ein paar Stunden ohne auskommen, dann kann ich mir am Nachmittag das hoffentlich gut sitzende Teil wieder abholen. Meine Sorge: Werde ich noch etwas schmecken und vor allem: Wird die Gaumenplatte mich beim Sprechen behindern? Wir man mich noch verstehen können? Drastischer kann man kaum mitgeteilt bekommen, dass man alt und hinfällig ist.

Anderntags hat sich die Lage etwas entspannt und der Panikpegel ist merklich gesunken. Ich bin gestern Nachmittag, nachdem ich das Teil eingesetzt bekommen habe, gleich in die Stadt und habe Freunde besucht. Die merkten schon, dass ich etwas lispelte und verwaschen sprach, aber man könne mich trotzdem gut verstehen. Es hat sich als richtig erwiesen, unter Menschen zu gehen und loszureden und mich nicht zu Hause zu vergraben. Lesungen werde ich wahrscheinlich keine mehr durchführen können, aber meine Sozialphobie wird sich der Prothese als Begründung nicht bedienen können können. Schokolade, die ja am Gaumen schmilzt und ihren Geschmack von dort aus im Mund verteilt, wird nicht mehr so gut munden, aber eine Verringerung des Schokoladenkonsums wäre zu verschmerzen, vielleicht sogar zu begrüßen.  … weiter
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Foto: letztegeneration.org


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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 62: Der Mann mit dem Hund

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 62

 

Der Mann mit dem Hund

„Ich habe nie geleugnet, sentimental zu sein: Man misstraut dem, was kommen mag, und hält so lange an einem beglückenden Gefühl der Vergangenheit fest, wie es eben geht – auch auf die Gefahr hin, dass man damit die Kräfte mindert, die für die Gegenwart nötig wären.“
(Ralf Rothmann)

Bei einer Massenpanik, die bei einer Halloween-Party in Seoul ausbrach, kamen auf der Partymeile über 150 Menschen ums Leben. In den engen Gassen kam es zu einem Gedränge, viele Leute stürzten, wurden von den Nachdrängenden tot getrampelt, erstickten oder starben an Herzstillstand. Die Zahl der Opfer könne noch steigen, heißt es am Tag danach. Halloween gilt allgemein als das „Fest des Grauens“, insofern passt das Geschehen in Seoul zu diesem Tag. Das „Fest des Grauens“ soll seinen Ursprung in Irland haben. Der keltischen Mythologie nach machten sich an diesem Tag die Toten auf die Suche nach den Lebenden, die im nächsten Jahr sterben sollten. Zur Abschreckung der bösen Geister verkleideten sich die Menschen mit furchterregenden Kostümen und spukten selbst bei Nacht durch die Straßen. Von diesem mythologischen Ursprung ist, wie bei allen Festen, kaum etwas geblieben. Der Konsum hat sie vereinnahmt und ihres spirituellen Gehalts entkleidet. Halloween ist heute nur eine willkommene Gelegenheit, die Sau rauszulassen und sich zu betrinken. … weiter

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