Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 35: Versuch über „Herdendummheit“

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 35

 

Versuch über „Herdendummheit“

Schreibend gab ich mir einen Halt, wie Bergsteiger Eisenringe in den Felsen schlagen, um sich vor dem Absturz zu sichern, vor allem aber, um sich abseilen zu können. Dank meines Tagebuchs würde ich mich zu jeder beliebigen Zeit meines Lebens abseilen können.“
(Ingo Schulze: Tasso im Irrenhaus)

Gestern sah ich unseren Briefträger vorn an der Ampel. Er war Richtung Bahnhof unterwegs. Ich grüßte ihn und fragte, eigentlich eher scherzhaft gemeint, ob er mir heute etwas in meinen Briefkasten geworfen habe. „Ja, einen DIN-A4-Umschlag“ „Wahrscheinlich vom Freitag in Berlin“, sagte ich. „So genau hab ich nun doch nicht hingeschaut“, erwiderte er lächelnd. Ein Briefträger, wie er sein soll, einer, der seine Kundschaft mit Namen kennt. Zwischenzeitlich hatten wir Jahre lang angelernte Zusteller, für die der Begriff Briefträger nicht mehr passt. Manche schienen der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein oder konnten nicht richtig lesen, denn sie warfen die Post einfach in irgendeinen Briefkasten und überließen die Verteilung dem Besitzer dieses Briefkastens.

Mein Urbild des Briefträgers ist ein gemütlicher Mann, der noch Postbeamter war und eine richtige blaue Uniform mit dazugehöriger Mütze trug. Er ging seinem Beruf noch mit einer Umhängetasche nach und sprach mich stets mit Herr Doktor an. Das war ihm partout nicht auszureden. Als ich ihm einmal in der Sauna begegnete, war ihm das extrem unangenehm – so nackt und ohne Uniform. Wir taten in der Folgezeit so, als hätte es diese Begegnung nicht gegeben…. weiter

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 29: Kindesmissachtung 2.O

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 29

 

Kindesmissachtung 2.O

„Wenn wir nicht einfach in den Tag hinein leben, sondern uns unserer Existenz bewusst sein wollen, ist es unsere größte und zugleich schwerste Aufgabe, in unserem Leben einen Sinn zu finden.“
(Bruno Bettelheim)

Fast jedes Mal, wenn ich die Hängebrücke über die Lahn überquere, sehe ich junge Frauen oder Mädchen, die dort über dem Fluss ein Fotoshooting veranstalten. Sie treffen sich dort, um ein Posing für ihr Instagram- oder TikTok-Profil zu veranstalten. Sie sind meist total aufgebrezelt und aufwendig und grell geschminkt. Die Münder durch Lippenstift überdimensional groß, die Augen von künstlichen Wimpern überdacht. Die Posen, die sie einnehmen, wirken einstudiert, oft ziemlich lasziv. Der Kopf muss in eine bestimmte Haltung gebracht werden, die Haare werden in den Nacken oder über die Augen geworfen. Anleitungen, wie man ein Posing durchzuführen hat, findet man im Netz. Die Kids wirken wie Abziehbilder oder Klone ihrer Vorbilder, die sie Influencer nennen. Viele haben den Traum, selbst Influencerin zu werden, damit Geld zu verdienen und Zugang zu finden zu einer Welt des Luxus‘ und der Mühelosigkeit. … weiter

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