Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 71: Die Schlange, der Riss und der Tod

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 71

 

Die Schlange, der Riss und der Tod

„Dummheit ist von allen nachwachsenden Energien die zuverlässigste.“
(Sten Nadolny)

Auf dem Alten Friedhof saß ein junger Mann auf einer Bank und fütterte die Eichhörnchen, „meine“ Eichhörnchen. Sie wuselten in größerer Zahl um ihn herum und schienen vertraut mit ihm. Bei mir stellten sich umgehend Eifersuchtsgefühle ein. Als er sah, dass auch ich Nüsse mit mir führte, fühlte er sich bemüßigt Äußerungen zu tätigen, die seine Priorität in Sachen Eichhörnchen-Fütterung betonten. „Heute bevorzugen sie Erdnüsse“, sagte er. Wie zur Bestätigung wurde eine von mir ins Spiel gebrachte Walnuss ignoriert und einfach liegen gelassen. Er nahm das als Beleg für seine größere Vertrautheit mit den Tieren. Er behauptete nun, dass die Eichhörnchen 95 Prozent der von ihnen vergrabenen Nüsse nicht mehr wiederfänden. Feldversuche hätten das ergeben, er habe entsprechende Studien gelesen. Ich bezweifelte diese hohe Fehlerquote, ganz so dämlich und vergesslich seien die Hörnchen nicht. Ich konnte aber wissenschaftlich nichts gegen seine Behauptung aufbieten. Er beharrte auf seinen Zahlen und wiederholte sie eins ums andere Mal.

Der junge Mann gab sich als Mitglied einer Verbindung zu erkennen, die ihr Hauptquartier direkt neben dem Friedhof hat. Ich habe unter dem rechten Augen eine Narbe, die von einer Jochbeinverletzung herrührt, die er aber für einen „Schmiss“ hielt. Er fragte, ob ich einer schlagenden Verbindung angehörte. Als ich verneinte und meine tiefe Abneigung gegen solche Vereinigungen zum Ausdruck brachte, ging unser Gespräch schnell zu Ende. … weiter
(Hinweis: Der Link führt seit Nummer 66 auf die eigene Seite der durchhalteprosa.de )

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 61: Das Geld ist queer

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 61

 

Das Geld ist queer

Rimbauds einst skandalöse Behauptung, ‚Ich ist ein anderer‘, gehört heute zur psychischen Grundausstattung des zeitgenössischen Subjekts, diesem Chamäleon multipel ausgelebter Existenzweisen.“
(Wolfram Schütte)

Nach dem durch Polizeigewalt herbeigeführten Tod von Mahsa Amini in Teheran kommt der Iran nicht zur Ruhe. Überall im Land wird gegen die Herrschaft der Mullahs und die religiöse Bevormundung demonstriert. Getragen werden die Proteste vor allem von jüngeren Frauen, die ihre Kopftücher ablegen und öffentlich verbrennen. Sie sind nicht länger bereit, sich in die ihnen zugedachte Position einer halbfeudalen oder feudalen Abhängigkeit zurückdrängen zu lassen.

Dem Iran und ähnlich verfassten Gesellschaften steht, wenn man so will, die Aufklärung noch bevor, die der Bevormundung durch die Religion ein Ende setzt und Macht und Herrschaft hinterfragbar macht, ohne dafür gesteinigt oder inhaftiert zu werden. Es sind überfällige Modernisierungsprozesse, die in solchen noch archaisch verfassten Gesellschaften in Gang kommen und die im Fall ihres Gelingens die betreffenden Gesellschaften auf die „Höhe der Zeit“ heben. … weiter

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 57: Orwells Rosen

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 57

 

Orwells Rosen

„Seit Bakunin hat es in Europa keinen radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben.“
(Walter Benjamin)

Bei der Hitze, die seit einigen Tagen über uns gekommen ist, sitze ich morgens bereits am Fluss. Es gibt um diese Zeit noch keine Lärm-Trottel und sonstige Vollpfosten. Es kommt vor, dass ein früher Kanufahrer unterwegs ist. Um diese Zeit grüßt man sich. Dann gleitet er, beinahe lautlos vorüber und verschwindet hinter der nächsten Flussbiegung. Gestern war der Fluss von Blättern übersät, die die Bäume wegen der großen Trockenheit bereits abwerfen. Sie sind derart trocken, dass sie nicht untergehen, sondern auf der Wasseroberfläche dahintreiben. Als ich schwimmen ging, sahen die zusammengerollten Blätter aus wie bunte Schiffchen, die in Augenhöhe um mich herumschwammen. Es waren hunderte und jeder Windstoß vergrößerte ihre Anzahl. Es gab gelbe, grüne und braune. Im Laufe des Tages wird das Wasser sie verschlucken. … weiter

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 53: Der Tod im Leben

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 53

 

Der Tod im Leben

„achtzig jahre alt werden / und dann aufbrechen / um auf einem Schneefeld / unter dem allalinhorn einzuschlafen / wäre der schönste tod / stattdessen krepiert man / irgendwo / an irgendetwas // na man kann schließlich nicht / alles haben // und geschenkt kriegt man / nichts // das allalinhorn schon gar nicht.“
(Alfred Andersch)

Us Schwester liegt im Sterben und quält sich auf der Palliativstation des Krankenhauses von L aus dem Leben. Erst quält man sich hinein, dann hindurch und dann wieder hinaus. U hatte die letzte Woche Corona, hat sich nun aber freitesten können und darf also wieder zu ihr. Renate, so heißt die Schwester, hatte kein leichtes Leben. Sie kam mit einer körperlichen Behinderung zur Welt und hat ihr halbes Leben im Rollstuhl verbracht. Dann litt sie unter einem Vater, der in ihren Behinderung eine Kritik an seiner Männlichkeit und der Qualität seines Spermas sah. U litt unter demselben Nazi-Vater, konnte sich ihm aber eher entziehen.  Es – oder er – war aber auch für sie schlimm genug.

Eigenartiger Weise ging es nach dem Tod dieses Vaters mit Renate rapide bergab. Auf eine geheimnisvolle und maligne Weise scheinen die beiden doch eine Art Bindung gehabt zu haben. Die gröbsten Beleidigungen sind letztlich besser als gar keine Anerkennung. … weiter

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 51: Die geköpfte Taube

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 51

 

Die geköpfte Taube

„Nachdem ich etwas erfahren hatte, kam es mir erst vor, als ob ich gar nichts wisse, und ich hatte recht: denn es fehlte mir der Zusammenhang, und darauf kommt doch eigentlich alles an.“

(Goethe)

Bin mit dem Aufräumen und Ausmisten meiner Wohnung schon relativ weit gekommen. Ich erkenne sie und speziell das Arbeitszimmer kaum wieder. Die wunderbare Arbeitsplatte aus Buchenholz, die ich mir in der Gefängnis-Schreinerei habe anfertigen lassen, ist nun frei und leer und schön anzusehen. Endlich kommt die Maserung des Holzes zur Geltung. Hoffentlich werde ich an ihr noch manche Zeile schreiben. Seit zwei Tagen steht ein Strauß Narzissen darauf, neben dem Bild eines Eisvogels, das Freunde mir geschenkt haben, die meine Zuneigung für diesen Vogel kennen. Vorgestern bin ich die Lahn entlanggegangen in der Hoffnung, einen Eisvogel zu sehen. Aber ich sah keinen. Dafür habe ich gestern den Eichhörnchen auf dem Alten Friedhof Walnüsse mitgebracht und durfte zusehen, wie sie sie knackten. Sie drehen sie hektisch zwischen den Pfoten und setzen ihre Zähne ein, bis die Schale aufspringt und den Kern freigibt. Eine Meise setze sich in der Nähe auf einen Zweig und reklamierte lautstark ihren Anspruch auf einen Teil der Beute. In der Sonne war es angenehm warm und ich setzte mich auf eine Bank. Ich saß einfach so da, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. … weiter

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 48: Brüder der romantischen Verlierer

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 48

 

Brüder der romantischen Verlierer

„Aus der verdammten Tüchtigkeit entstehen Mordgedanken, weil der Mensch was anderes möchte als tüchtig sein, nämlich nichts als seinen Kopf in die Luft zu halten. So entsprach wenigstens ich diesem allgemeinen Wunsch“.

(Herbert Achternbusch)

In einer Geschichtsdokumentation über Burgen sah ich gestern eine gespielte Szene. Ein Diener betritt die Gemächer von Friedrich Wilhelm I. von Preußen und zeigt ihm seinen neugeborenen Sohn. Der sogenannte Soldatenkönig schenkt dem Ereignis keine besondere Aufmerksamkeit, sondern sagt lediglich: „Er soll Friedrich heißen. Bring er ihn wieder, wenn er exerzieren kann.“ Exerzieren musste ein preußischer Prinz früh lernen. In dieser kleinen Szene ist eigentlich bereits alles Weitere enthalten.

Der kleine Fritz wurde zum Opfer von Erziehungspraktiken, für die Katharina Rutschky den Begriff „schwarze Pädagogik“ geprägt hat. Der Vater wird irgendwann gewahr, dass sich der Sohn in eine Richtung entwickelt, die seinen Entwürfen für ihn zuwiderläuft: … weiter

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 45: Wer ist schuld an mir?

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 45

 

Wer ist schuld an mir?

Die Götter sind verschwunden, wir sind der Natur völlig egal und wir sind allein im Kosmos. Und doch haben wir eine moralische Verpflichtung, uns umeinander zu kümmern und in der menschlichen Solidarität Bedeutung zu finden.“
(Paul Auster)

Gestern Abend sah ich eine Wissenschaftssendung, in der auf die Bedeutung von Seegraswiesen für die Aufrechterhaltung des ökologischen Gleichgewichts hingewiesen wurde. Sie bänden jede Menge Kohlenstoff und wären ein wichtiger Faktor im Kampf gegen den Klimawandel. Der Naturbezug, der in dieser Argumentation zutage tritt, ist genauso instrumentell wie jener, der in einer alten Eiche nur Festmeter Holz für die Möbelindustrie erblickt. Die Seegraswiese hätte ihr Recht, auch wenn sie zu nichts nutze und einfach nur da wäre. Die Natur besitzt ihre eigene Würde, die zerstört, wer sie zum Mittel für fremde Zwecke macht – selbst wenn es der Zweck wäre, den Planeten zu retten. … weiter

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 35: Versuch über „Herdendummheit“

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 35

 

Versuch über „Herdendummheit“

Schreibend gab ich mir einen Halt, wie Bergsteiger Eisenringe in den Felsen schlagen, um sich vor dem Absturz zu sichern, vor allem aber, um sich abseilen zu können. Dank meines Tagebuchs würde ich mich zu jeder beliebigen Zeit meines Lebens abseilen können.“
(Ingo Schulze: Tasso im Irrenhaus)

Gestern sah ich unseren Briefträger vorn an der Ampel. Er war Richtung Bahnhof unterwegs. Ich grüßte ihn und fragte, eigentlich eher scherzhaft gemeint, ob er mir heute etwas in meinen Briefkasten geworfen habe. „Ja, einen DIN-A4-Umschlag“ „Wahrscheinlich vom Freitag in Berlin“, sagte ich. „So genau hab ich nun doch nicht hingeschaut“, erwiderte er lächelnd. Ein Briefträger, wie er sein soll, einer, der seine Kundschaft mit Namen kennt. Zwischenzeitlich hatten wir Jahre lang angelernte Zusteller, für die der Begriff Briefträger nicht mehr passt. Manche schienen der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein oder konnten nicht richtig lesen, denn sie warfen die Post einfach in irgendeinen Briefkasten und überließen die Verteilung dem Besitzer dieses Briefkastens.

Mein Urbild des Briefträgers ist ein gemütlicher Mann, der noch Postbeamter war und eine richtige blaue Uniform mit dazugehöriger Mütze trug. Er ging seinem Beruf noch mit einer Umhängetasche nach und sprach mich stets mit Herr Doktor an. Das war ihm partout nicht auszureden. Als ich ihm einmal in der Sauna begegnete, war ihm das extrem unangenehm – so nackt und ohne Uniform. Wir taten in der Folgezeit so, als hätte es diese Begegnung nicht gegeben…. weiter

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