Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 79: Das große Vergessen

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 79

 

Das große Vergessen

„Alle verblöden um die Wette.“
(Gustave Flaubert) 

Apokalyptische Bilder jeden Abend in den Nachrichtensendungen: Hitze, Brände, Überflutungen, Erdbeben, Hungerkatastrophen, Krieg und Zerstörung. Wir bekommen täglich eine derartige Dosis an Schreckensnachrichten verabreicht, dass wir die Fähigkeit zur Empörung und Revolte einbüßen. Wir stumpfen ab und drohen unsere Fähigkeit zur Empathie einzubüßen. Stefan Zweig hat dieses Phänomen bereits angesichts der Meldungen von den Fronten des Zweiten Weltkriegs beschrieben. (Teil 72 der DHP: Machnos Erben) Damals wie heute müssten wir aufschreien und uns kollektiv auflehnen, aber die Masse der Bilder und die Flut der Nachrichten lassen uns verstummen und lähmen unsere Initiative. Jurek Becker hat vor vielen Jahren schon auf ein scheinbares Paradox hingewiesen: Je drastischer die Bilder, die man uns präsentiert, desto schneller vergessen wir, was wir gesehen haben. Die Fülle und vor allem der Konkretismus der Bilder ist das beste Mittel, uns gegen das Unglück immun zu machen. Das ist eine zu wenig beachtete Facette der „Dialektik der Aufklärung“: Je deutlicher eine Barbarei zu sehen ist, desto schneller vergessen wir sie. Nachrichten haben uns stärker geprägt, als wir sie nur hörten oder lasen. Die Bilder dazu entstanden in unseren Köpfen und beschäftigten uns dann mehr, als die fertig gelieferten von heute. … weiter
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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 78: Die Furie des Verschwindens

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 78

 

Die Furie des Verschwindens

„Die Literatur: ein Kolibri in der Maschinenhalle, flüchtig, schön und ohne Zweck. Und doch entzündet sich die Sehnsucht daran, es möge mehr als nur Maschinenhallen geben.“
(Ralf Rothmann: Theorie des Regens)

Von den beiden Gesetzentwürfen zur Neuregelung der Sterbehilfe, die heute (6. Juli 2023) im Bundestag zur Abstimmung standen, fand keiner eine Mehrheit. Auch drei Jahre nach einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts bleibt der assistierte Suizid ohne gesetzliche Regelung. Sterbehilfe ist erlaubt, aber es gibt nach wie vor kein Gesetz, das dafür verbindliche Regelungen vorgibt. Ein echtes Trauerspiel, das einfach kein Ende nimmt. Man schleicht um den heißen Brei, der nicht abkühlen will. Man merkt an dem schleppenden Verfahren, dass das Thema Sterben und Tod noch immer – oder vielleicht mehr denn je? – von Tabus umgeben und überlagert ist.

„Worin besteht aber der Optimismus, den ich mit Adorno, meinem verstorbenen Freunde, teile? Darin, dass man versuchen muss, trotz alledem das zu tun und durchzusetzen, was man für das Wahre und Gute hält. Und so war unser Grundsatz: theoretischer Pessimist zu sein und praktischer Optimist!
(Max Horkheimer: Kritische Theorie gestern und heute, Vortrag aus dem Jahr 1969)         … weiter
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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 77: Demokratie als Lebensform

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 77

 

Demokratie als Lebensform

„Hier merkt man es nicht so – diesen Satz hatte der Graf vor einiger Zeit während eines Spaziergangs durch den Park wie einen Seufzer ausgestoßen. Seitdem zitierten wir ihn, wann immer wir eine halbwegs unverdorbene Oase entdeckten. Da merkt man es nicht so. Was das war, das man nicht so merkte, bedurfte keiner Erklärung, auch das ‚so‘ erschöpfte sich in der Andeutung: Nicht so schlimm wie anderswo.“
(Monika Maron: Stille Zeile sechs)

„In dem anderen Land habe ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr wehgetan, täglich die Gründe zu sehen. Und hier? Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehen.“
(Herta Müller: Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt)

Vorn im Johannespark hockte ein junger Vater auf einer Bank, sein vielleicht zweijähriges Töchterchen saß vor ihm in einem Kinderwagen. Er zeigte dem Kind, wie ein Smartphone funktioniert und wie man auf ihm herumdrückt und -wischt. Das wird aber auch höchste Zeit, dachte ich bei mir.

Heute Morgen hörte ich im Radio einen Bericht über die vergangene Nacht, in der schwere Unwetter über Teile von Deutschland gezogen sind und in einigen Regionen Überschwemmungen und Verwüstungen hinterlassen haben. Massenhaft hätten die Leute über die üblichen Kanäle Fotos und Videos „der schönsten Blitze“ verschickt, erfuhr ich. BILD der FRAU erteilte ihren Leserinnen im Vorfeld ein paar nützliche Tipps, wie man Blitze am besten fotografiert. .  … weiter
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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 76: Nachmittag mit Graureiher

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 76

 

Nachmittag mit Graureiher

„Mein Körper ist siech. Und ich kann seinen Verfall nicht mehr aufhalten. Wie ein Tier, das den Tod nahen fühlt, spüre ich, wie der meine sich in meinem Leben einnistet, mit solcher Macht, dass ich nicht dagegen anzugehen vermag.“
(Frida Kahlo)

Auf dem Kirchenplatz findet heute Morgen an Fronleichnam ein Freiluftgottesdienst statt. Er ist erstaunlich gut besucht. Wusste gar nicht, dass es in Gießen noch so viele Katholiken gibt. Ein paar Meter weiter hockt eine junge Frau am Boden und wischt über ihr Smartphone. Sie war ganz offensichtlich noch nicht im Bett und ist auf dem Heimweg von einem nächtlichen Event. Von der türkischen Bäckerei zieht der Duft frisch gebackenen Brotes herüber. Es ist noch kaum Verkehr und man kann die Kreuzungen auch ohne das grüne Licht der Ampeln gefahrlos überqueren. So sollte es immer sein. Hundebesitzer führen ihre Tiere aus, die an den Leinen zerren. Einsame Ausländer brüllen an ihre Handys hin. Die Lahn glitzert in der Morgensonne, ein Klangteppich aus Vogelgezwitscher liegt über allem. Ich schwimme ein paar Züge, setze mich danach zum Nachdenken auf den Steg und lasse die Beine ins Wasser baumeln. Ein früher Paddler zieht still vorüber und verschwindet hinter der nächsten Flussbiegung. Der Stammreiher von gegenüber stakst durchs flache Wasser und bezieht dann seine Lauerstellung. Manchmal möchte ich die Fische warnen, aber der Reiher will ja auch leben. Ich warte darauf, eine Eisvogel zu hören und dann auch zu sehen, habe aber an diesem Morgen kein Glück.  … weiter
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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 75: Die Geburt des Sozialismus aus dem Geist des Ressentiments

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 75

 

Zur Dialektik der Einsamkeit

„Twitter ist wie Menschen, nur noch mehr. Twitter nach Einbruch der Dunkelheit sind verlassene Kinder, die um Aufmerksamkeit buhlen. Twitter ist das Es, wenn es tippen könnte.“
(A. L. Kennedy)

(c)Foto: Letzte Generation – Aktion Köln, 9.3.2023

Jetzt bekommt meine Oberkieferprothese tatsächlich eine Gaumenplatte. Ohne sie würde die Konstruktion nicht halten. Sie ist durch das eingebaute Metall derart schwer, dass sie einfach der Schwerkraft folgt und runterfällt. Gestern Abend ist sie mir beim Husten rausgefallen. War eben in der Praxis, wo man Abdrücke genommen hat. Nun muss ich ein paar Stunden ohne auskommen, dann kann ich mir am Nachmittag das hoffentlich gut sitzende Teil wieder abholen. Meine Sorge: Werde ich noch etwas schmecken und vor allem: Wird die Gaumenplatte mich beim Sprechen behindern? Wir man mich noch verstehen können? Drastischer kann man kaum mitgeteilt bekommen, dass man alt und hinfällig ist.

Anderntags hat sich die Lage etwas entspannt und der Panikpegel ist merklich gesunken. Ich bin gestern Nachmittag, nachdem ich das Teil eingesetzt bekommen habe, gleich in die Stadt und habe Freunde besucht. Die merkten schon, dass ich etwas lispelte und verwaschen sprach, aber man könne mich trotzdem gut verstehen. Es hat sich als richtig erwiesen, unter Menschen zu gehen und loszureden und mich nicht zu Hause zu vergraben. Lesungen werde ich wahrscheinlich keine mehr durchführen können, aber meine Sozialphobie wird sich der Prothese als Begründung nicht bedienen können können. Schokolade, die ja am Gaumen schmilzt und ihren Geschmack von dort aus im Mund verteilt, wird nicht mehr so gut munden, aber eine Verringerung des Schokoladenkonsums wäre zu verschmerzen, vielleicht sogar zu begrüßen.  … weiter
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Foto: letztegeneration.org


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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 74: Zur Dialektik der Einsamkeit

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 74

 

Zur Dialektik der Einsamkeit

„In der Pariser Kommune haben die Kommunarden, bevor sie anfingen auf Menschen zu schießen, die Uhren beschossen, alle Uhren in Paris und sie kaputtgemacht. Und das taten sie, um die Zeit der Anderen, die Zeit der Herrschenden zu beenden und ihre eigene Zeit anbrechen zu lassen. Blicke ich jetzt in die Runde, dann sehe ich von Ihren Gesichtern eine Perspektive, eine Perspektive zerbrochener Uhren ausgehen. Und jetzt, denke ich, ist unsere Zeit gekommen!“
(David Cooper am Ende des Kongresses Dialektik der Befreiung, der im Juli 1967 in London stattfand)

Heute kommt das Vorauskommando der Fernwärme ins Haus. Eine Firma, die bereits einen Ortstermin durchgeführt hatte und im Sommer mit dem Einbau beginnen wollte, hat den Auftrag wegen Überlastung zurückgegeben. Nun verspricht eine andere Firma einzuspringen. Mal sehen, ob die das dieses Jahr noch hinbekommt oder ob auch sie sich irgendwann zurückzieht. Die ganze Branche scheint heillos überlastet zu sein. Ich habe diese Begehung meiner Wohnung zum Anlass genommen, mal aufzuräumen und zu putzen. Hat mich Tage und Stunden gekostet, aber war auch wirklich mal nötig. Das strengt mich vielmehr an als früher. Mal sehen, wie lang ich das noch allein und ohne fremde Hilfe hinbekomme. Kann mir immer noch nicht vorstellen, die Reinigung meiner Wohnung fremden Leuten zu überlassen. Das gehört zum Leben hinzu und sollte nicht in eine bezahlte Dienstleistung verwandelt werden. Die Tendenz, Dienstboten zu beschäftigen, hat André Gorz einmal als „Südafrikanisierung“ unserer westlich-kapitalistischen Gesellschaften bezeichnet. … weiter
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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 73: Das Rätsel der „freiwilligen Knechtschaft“

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 73

 

Sowjetkommunismus

Das Rätsel der „freiwilligen Knechtschaft“

„Unglücke geschahen keine, das Leben war das Unglück, es floss dahin und kannte nur eine Richtung, hin zur allmählichen Zermürbung.“
(Lukas Bärfuss: Die Krume Brot)

Am Freitag war ich zu einem clandestinen Treffen im „Fluchthafenkaffe“ eingeladen. Mein Freund Jürgen holte mich mit seinem klapprigen Volkswagen ab. Da es regnete und auch nicht besser zu werden versprach, hatte er, der eigentlich ein passionierter Radfahrer ist, sich dazu durchgerungen, mit dem Auto ins ehemalige US-Depot zu fahren, das am Gießener Stadtrand liegt. Von hier aus wurden einst die ganzen in Europa stationierten US-Streitkräfte mit Whiskey, Kaffee, Zigaretten, Stereoanlagen und Dosenfleisch versorgt. Da viele Gießener und auch Studenten dort als zivile Hilfskräfte arbeiteten, sickerten diese Güter ins Stadtgebiet ein und landeten auch in mancher Wohngemeinschaft. Das Depot war ein lokaler Niedriglohnsektor, lange bevor es diesen Begriff gab. Leute, die Geld brauchten, gingen morgens spontan hin und heuerten für ein paar Stunden oder einen Tag an. Arbeiterstrich hätte es wohl besser getroffen. Peter Kurzeck, der eine Zeit lang auch dort gearbeitet hatte, hat diese Schattenökonomie und die Rolle der GI‘s in der Stadt und ihrem Kneipen- und Rotlichtmilieu in seinem fulminanten Roman Vorabend beschrieben. Das US-Depot – die Gießener betonen das Wort Depot auf der ersten Silbe – wurde mit dem Abzug der US-Armee im Jahr 2007 geschlossen. … weiter
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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 72: Machnos Erben

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 72

 

Machnos Erben

„Wir werden die Diener dieser Megamaschine. Die Produktion steht nicht mehr in unserem Dienst, sondern wir stehen im Dienst der Produktion. Und aufgrund der gleichzeitigen Professionalisierung aller möglichen Dienstleistungen werden wir unfähig, für uns selbst zu sorgen, unsere Bedürfnisse selbst zu bestimmen und sie selbst zu befriedigen. Wir werden von Experten bevormundet und entmündigt.“
(André Gorz)

ChatGPT, was ist denn das nun schon wieder? Schafft sich der Mensch nun endgültig selber ab? Hat er das nicht längst getan? Die Menschen werden in dem Maß blöder, wie die Dinge und Maschinen intelligenter werden. Die modernen Naturwissenschaften haben im Interesse der Naturbeherrschung und des Profits die Welt auf eine Summe gesetzmäßiger Mechanismen reduziert, die auf mathematische Formeln gebracht werden können. Dieses Denken, heißt es in André Gorz‘ Kritik der ökonomischen Vernunft, bringt schließlich eine Maschine hervor, „die das Denken der Äußerlichkeit durch die Äußerlichkeit dieses Denkens selbst ersetzt und seitdem als Bezugspunkt für den menschlichen Geist dient: der Computer, gleichzeitig Rechenmaschine und ‚künstliche Intelligenz‘, Maschine zur Komposition von Musik, zum Schreiben von Gedichten, zur Krankheitsdiagnose, zur Übersetzung, zum Sprechen … Die Fähigkeit zum Entwurf von Maschinen begreift sich schließlich selbst als Maschine; der Geist, der in der Lage ist, wie eine Maschine zu funktionieren, erkennt sich in der Maschine wieder, die in der Lage ist, wie er selbst zu funktionieren – ohne zu begreifen, dass in Wirklichkeit die Maschine nicht wie der Geist funktioniert, sondern nur wie jener Geist, der gelernt hat, wie eine Maschine zu funktionieren.“ … weiter
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