Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 39: Verlust der Kohärenz

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 39

 

Verlust der Kohärenz

Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.“
(Ludwig Wittgenstein)

Am Samstag, dem 9. Oktober, bin ich bei sonnigem Herbstwetter nochmal in die Lahn gestiegen, wenn auch nur für Sekunden. Bei 13 Grad Wassertemperatur war nicht mehr drin als ein paar hastige Schwimmzüge. Aber es war toll, nachher das Kribbeln des kalten Wassers am ganzen Körper zu spüren. Als Zugabe sah ich einen Eisvogel zwei Mal im Tiefflug über die Lahn flattern. Ich setzte mich nach dem kurzen Bad auf die Treppe am Steg und las in Camus‘ Der Mythos des Sisyphos. Über den Begriff des Unkontrollierbaren, der gleich eingangs des Buches eine gewisse Rolle spielt, muss ich bei Gelegenheit intensiver nachdenken. Ich bin ihm schon einmal in einem Text von John Berger begegnet, der Ein Apfelgarten heißt und als offener Brief an den Bürgermeister von Lyon entstanden ist. In der Stadt sollte ein altes Gefängnis, das die Leute Der Hexenkessel nannten, abgerissen werden. John Berger schlug vor, an der Stelle, wo das Gefängnis stand, statt eines Supermarktes einen Apfelgarten anzulegen. „Die Blüten im Frühling, die Früchte im späten Oktober wären ein Andenken an alle Träume, die hier einst geträumt wurden. Hier, dieses Wort, Monsieur, möchte ich betonen, hier.“ … weiter

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Gewerkschaftliche Kernforderungen nach der Bundestagswahl 2021

Der DGB Bundesvorstand hat sich am heutigen Dienstag in Berlin erneut mit dem Ergebnis der Bundestagswahl beschäftigt. Mit Blick auf die anstehenden Koalitionsverhandlungen bekräftigen die Gewerkschaften die Forderungen, die sie bereits im November 2020 und im Rahmen der Kampagne „ECHT GERECHT: Zukunft solidarisch gestalten“ an die politischen Parteien gestellt haben.

Dazu der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann: „Unser Land steht vor großen Veränderungen und Herausforderungen. Es geht um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, die Zukunft unserer Arbeitswelt und Wirtschaft angesichts von Klimawandel und Digitalisierung, um Geschlechtergerechtigkeit, gute Bildung, Chancengleichheit und unsere Demokratie in Deutschland und Europa. Wir brauchen einen Aufbruch, um die Herausforderungen in diesem Land stemmen zu können. Jetzt kommt es darauf an, dass schnell eine handlungsfähige Regierung gebildet wird, die dann die Weichen richtig stellt.“

Folgende Punkte muss die neue Bundesregierung zügig umsetzen: 

1. Die Handlungsfähigkeit des Staates stärken – mehr Investitionen für die Transformation, den Wandel nachhaltig gestalten und Wohlstand sichern

  • öffentliche und private Investitionen stärken, ein umfangreiches staatliches Investitionsprogramm von zusätzlich mindestens 45 Mrd. Euro pro Jahr für zehn Jahre umsetzen, zur Finanzierung die Schuldenbremse abschaffen, zumindest aber mehr Spielräume und Ausnahmen für (Zukunfts-)Investitionen einführen oder alle Möglichkeiten ausnutzen, öffentliche Investitionen auch bei bestehenden Schuldenregeln ausweiten zu können (beispielsweise über öffentliche Investitionsgesellschaften und Extrahaushalte), Tilgungspläne für Corona-Schulden verlängern.
  • ein gerechtes Steuersystem einführen – mit Mehreinnahmen bei Erbschafts-, Vermögens und anderen Steuern und gleichzeitiger Entlastung der Normal- und Geringverdienenden im Bereich der Einkommenssteuer.
  • den klimaneutralen und beschäftigungssichernden Umbau bestehender Wirtschaftsstrukturen und vorhandener Wertschöpfungsnetzwerke aus Industrie und Dienstleistungen vorantreiben.
  • die nachhaltige Energie-, Verkehrs- und digitale Infrastruktur ausbauen und Planungsverfahren beschleunigen.
  • den Ausbau erneuerbarer Energien und Aufbau einer Wasserstoff-Wirtschaft beschleunigen.
  • die Stromkosten für Unternehmen und private Haushalte (Steuerfinanzierung der EEG-Umlage) senken.
  • eine proaktive Strukturpolitik für die Regionen umsetzen und Transformationsräte und -netzwerke einrichten, Industrie und Schlüsseltechnologien im Land halten oder neu ansiedeln.
  • eine umfassende öffentliche Daseinsvorsorge und innere Sicherheit gewährleisten, kommunale Altschulden durch Bund und Länder übernehmen, mehr in bessere Infrastruktur, Bildung, Digitalisierung, bezahlbares Wohnen, Mobilität, lebenswerte Regionen, gute Kitas, Schulen und Unis und bedarfsgerechte Personalausstattung im Öffentlichen Dienst investieren.

2. Tarifbindung und Mitbestimmung stärken

  • ein Bundestariftreue- und vergabegesetz (auch für Bundesunternehmen) einführen.
    die Instrumente zur Stärkung von Tarifverträgen (z.B. Allgemeinverbindlicherklärung) ausbauen.
  • Regelungen zum (digitalen) Zugangsrecht für Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte schaffen bzw. erweitern.
  • das Initiativ- und Mitbestimmungsrecht für Betriebsräte z.B. bei Arbeitszeiterfassung, Personalbemessung, Ein- und Durchführung betrieblicher Qualifizierungsmaßnahmen, Umweltschutz- und Nachhaltigkeitsmaßnahmen, Fragen der Gleichstellung, Durchsetzung von Entgeltgleichheit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie einführen. Entsprechende Regelungen braucht es im Bundespersonalvertretungsgesetz.
  • legale Schlupflöcher zur Vermeidung der Unternehmensmitbestimmung im deutschen und europäischen Recht schließen, effektives Sanktionsregime bei Nichtanwendung von Mitbestimmungsgesetzen schaffen.
  • die Unternehmensmitbestimmung modernisieren, das Doppelstimmrecht der oder des Aufsichtsratsvorsitzenden für alle Maßnahmen der strategischen Ausrichtung des
  • Unternehmens durch Schlichtungsverfahren ersetzen

3. Die Arbeitswelt der Zukunft gestalten – Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schaffen

  • gute Arbeitsbedingungen sichern, die Öffnung des Arbeitszeitgesetzes verhindern, die Rechte der Arbeitnehmer*innen stärken und ein eigenständiges Beschäftigtendatenschutzgesetz schaffen.
  • die Nationale Weiterbildungsstrategie u.a. mit dem Ziel fortführen, ein Recht auf lebensbegleitendes Lernen unabhängig vom Lebensalter und sozialem Status einzuführen sowie finanziell abzusichern und umfassende, verbindliche und passgenaue Freistellungs- und abgesicherte Weiterbildungsansprüche durchsetzen.
  • eine umlagefinanzierte Ausbildungsgarantie, die Jugendlichen den Übergang von der Schule in den Beruf öffnet, einführen und einen Pakt für berufliche Schulen abschließen.
    den Mindestlohn auf mindestens 12 Euro erhöhen, Ausnahmen abschaffen, die Durchsetzung verbessern.
  • prekäre Beschäftigungsformen und ihren Missbrauch überwinden, sachgrundlos befristete Beschäftigungsverhältnisse abschaffen, Dauerstellen für Daueraufgaben schaffen, Minijobs reformieren und Saisonarbeit regulieren.
  • einen Rechtsrahmen für freiwilliges und gesundheitsgerechtes mobiles Arbeiten inklusive Homeoffice setzen.
  • einen Rechtsrahmen für die Einführung und Nutzung neuen Technologien wie Künstliche Intelligenz definieren.

4. Den Sozialstaat stärken – Sicherheit im Wandel garantieren

  • die solidarische Finanzierung und paritätische Beiträge von Renten-, Pflege-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sichern.
  • die Pflegeversicherung zu einer Pflegebürgervollversicherung weiterentwickeln.
  • das Rentenniveau dauerhaft bei 48 Prozent stabilisieren und in weiteren Schritten anheben ohne Beitragssatz auf 22 oder gar 20 Prozent zu deckeln.
  • das Rentenalter nicht anheben und flexible Übergänge in die Rente fördern.
  • die betriebliche Altersversorgung stärken.
  • eine Kindergrundsicherung einführen.

5.10.2021
www.dgb.de

„Die neue po­li­ti­sche Nor­ma­li­tät „

Daniel Haufler veröffentlichte am 26.9.2021 im gewerkschaftlichen Debattenmagazin des DGB  „Gegenblende“ den empfehlenswerten Artikel „Die neue politische Normalität“ – eine Analyse der Bundestagswahl ’21:

Die neue politische Normalität
Die CDU erleidet das erwartete Wahldebakel, und die SPD holt ein gutes Ergebnis, aber nur in etwa so gut wie 2013. Nach einem oft müdem Wahlkampf, gibt es keine großen Volksparteien mehr – und dafür viele Koalitionsmöglichkeiten von drei Partnern. Eine wenigstens halbwegs soziale und ökologische Politik wird nur mit der Ampelkoalition möglich sein. Trotz vieler überholter Vorstellungen der FDP. Den ganzen Artikel lesen

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 37: Frühe Verschickungen

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 37

 

Frühe Verschickungen

„Während der Wissenschaftler immer darauf bedacht ist, die Wirklichkeit, so wie er es braucht, aufzuspalten, um die der technischen Einwirkung des Menschen zu unterwerfen, um die Natur zu überlisten in einer Haltung des Misstrauens und der Kampfbereitschaft, behandelt der Philosoph die Natur als Gefährtin. Die Richtschnur der Wissenschaft ist jene, die Bacon aufgestellt hat: gehorchen, um zu herrschen. Der Philosoph hingegen gehorcht weder, noch herrscht er; ihm ist darum zu tun, einen Gleichklang zu finden.“
(Henri Bergson)

Ich muss bei Olaf Scholz Abbitte leisten. Vor einer Weile hatte ich mich darüber lustig gemacht und mein Unverständnis darüber geäußert, dass er sich hartnäckig als kommenden Kanzler phantasierte, und nun scheint das durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen. Weniger allerdings durch eigene Verdienste, als durch Fehler seiner Konkurrenten. Vor allem Frau Baerbock hat viel dafür getan, ihre und der grünen Partei Chancen zu schmälern. Gewisse Medien haben ihre Schwächen und Fehler weidlich ausgeschlachtet und an ihrer Demontage heftig mitgearbeitet. Sie ist relativ unerfahren und ungeübt in die „Todeszone der Politik“, wie Joschka Fischer die Spitzenregion einmal genannt hat, eingedrungen und man hat ihr übel mitgespielt. … weiter

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Wenn Krokodile weinen

Imperialismus mit menschlichem Anlitz – Altmeister Schäuble äußert sich erschüttert im Bundestag

 

Ein Kommentar von Klaus Hecker

In der Sondersitzung des Bundestages zur Lage in Afghanistan am 25.08.2021 vollzieht sich zu Beginn etwas Ungewöhnliches: Der Bundestagspräsident sieht sich bemühsigt, ein inhaltliches Statement zur Debatte abzugeben. Schäuble „hat die moralische Verpflichtung Deutschlands betont, die Menschen in Afghanistan nicht im Stich zu lassen. Ihr Schicksal erschüttere das Selbstverständnis des Westens. Den Menschen in Afghanistan Schutz zu gewähren „die Hoffnungen in uns gesetzt und uns vor Ort unterstützt haben“, sei eine Frage der Mitmenschlichkeit“ (Quelle: evangelisch.de)

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Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 36: Lob der Höflichkeit

 

Götz Eisenbergs Durchhalteprosa 36

 

Lob der Höflichkeit

Im Jahre 1937 starb John D. Rockefeller, der König des Erdöls, Gründer der Standard Oil Company. Fast ein Jahrhundert lang hatte er gelebt. Bei seiner Autopsie fand man keinen einzigen Skrupel.“
(Eduardo Galeano)

In seinen Erinnerungen erzählt Art Garfunkel von einem Erlebnis auf einer seiner zahllosen Tourneen. Er sollte in einem Theater auftreten, und man bat ihn, mit dem Beginn auf die Ankunft einer lokalen Berühmtheit zu warten. Irgendwann taten ihm die Zuschauer leid und er begann mit seinem Programm. Irgendwann erschien auch der berühmte Mann, um dessentwillen sie den Beginn hinausgezögert hatten. Der Mann nahte mit seiner Aufmerksamkeit garantierenden Verspätung durch den Mittelgang und nahm auf seinem reservierten Platz in der ersten Reihe Platz.

„Der Mann, für den wir den Konzertbeginn hinausgezögert haben, ist ein moderner Mann. Er sitzt drei Meter vor mir. Und während des zweiten Songs beginnt er zu simsen! Die Regeln von heute bringen mich aus der Fassung: Glauben die Handytelefonierer, sie seien von einem Vorhang umgeben? Soll ich in der Kulisse des simsenden Lebens verschwinden? … weiter

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„Im Dschungel wird gewählt“

gsf – So heißt das erste Buch der neuen Schriftenreihe für Kinder, die von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) herausgegeben werden. „Im Dschungel wird gewählt“ erzählt, wie eine Gruppe Tiere im Dschungel den Löwen als ihren König nicht mehr duldet und eine demokratische Wahl organisiert.

In allen Büchern der Reihe dreht es sich um Grundfragen des demokratischen Zusammenlebens. So handelt  das Buch „Ein mittelschönes Leben“ handelt von einem Mann, der nach und nach die Kontrolle über sein bis dahin normales, glückliches Leben verliert und auf der Straße landet. Wie Max im Westen und seine Cousine Maja im Osten den Alltag zur Zeit der deutschen Teilung erleben, steht im Mittelpunkt von „Hübendrüben“. Weiterlesen

Siebzig Meter Angst

von Monika Strajtmann

Teil 1

am Stechlinsee bei Neuglobsow, Brandenburg – Ost-Berlin – West-Berlin; 1960 – 1962

Wir schreiben das Jahr 1960. Die Stadt Berlin ist leider immer noch nicht zusammengewachsen. In ihrem Westteil pulsiert das Leben, und das Wirtschaftswunder ist überall zu spüren. Im Ostteil, im Arbeiter- und Bauernstaat, wird wohl der sogenannte Wohlstand noch länger auf sich warten lassen. Die Menschen müssen nach wie vor nach Obst und Gemüse anstehen. Auch andere Lebensmittel werden immer knapper und teurer; von Luxusgütern, die auch zu einem neuen Lebensgefühl gehören, ganz zu schweigen. Die guten und begehrten Artikel werden getestet, dann für Devisen in den Westen geliefert und verschwinden so wieder ganz schnell vom Markt im Osten.

Dafür holen sich die Ost-Berliner die verschiedenen Dinge des alltäglichen Bedarfs aus dem Westteil der Stadt. Beileibe nicht oft oder gar täglich, denn die Umtauschkurse sind hoch und die Preise demzufolge für die Leute aus dem sowjetischen Sektor entsprechend teuer. Illegal ist das sowieso. Die Kontrollen an den Grenzen werden immer strenger. Die Zeitungen können fast täglich von überführten Grenzgängern berichten. … weiter


Wir danken dem Zeitgut-Verlag für die Abdruckerlaubnis des Textes. 
Aus:
– Mauerzeit, Als fliehen tödlich sein konnte. 1961-1989, Reihe Zeitgut Band 25
– Siebzig Meter Angst, Fluchtgeschichten aus der DDR. 1961-1989, Reihe Zeitgut Auswahl


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Tipp der Redaktion:

„Wir Kinder der Mauer“. Der Dokufilm erzählt die Geschichte von Heranwachsenden zwischen 1961 und 1989. In der Mediathek der ARD.
Sehr empfehlenswert. 

Verfügbar bis zum 7.8.2022

zum Film

 

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